Das Neue Normal wird durch eine Dominanz hybrider Organisationsformen charakterisiert sein. Durch die Pandemie sind viele durch einen trial and error Prozess mehr oder weniger erfolgreich gegangen. Jetzt wird der Ruf nach Regelungen lauter. Gehen wir jetzt wieder in die Organisation nach dem Old Normal zurück oder nehmen wir die Gelegenheit war, Organisationen nach neuen Prinzipien grundsätzlich neu zu gestalten?

Hans Gärtner, Radical-Inclusion

Udo Kronshage, osb international

 

Wie Organisationen mit der Wucht der Veränderung umgehen können

Die gern zitierte Metapher des Schachtbretts für exponentielles Wachstum bezieht sich auf eine Legende, nach der ein Weiser in Indien von seinem Fürsten belohnt werden sollte. Dieser wünschte sich “nur” ein Korn Reis auf dem ersten der 64 Feldern des Schachbretts, zwei Körner auf dem zweiten, vier auf dem dritten usw. – eben jeweils die doppelte Menge auf dem folgenden Feld. In Unkenntnis exponentieller Dynamiken stimmte der Fürst leichten Herzens zu und fand es einen eher bescheidenen Wunsch. Sein Versprechen hätte ihn allerdings ruiniert, denn auf dem letzten Feld läge eine Reismenge, die ganz Indien mit einer 1m dicken Reisschicht bedecken würde. 

Auf den mittleren Feldern beginnt die Kurve, steil zu werden. Uns beschäftigt, dass wir in den letzten Jahren Andeutungen der Dynamik erleben, die sich in allen Lebensbereichen entfalten wird. Mit Corona als Herausforderer und Beschleuniger werden viele Schwächen heutiger Organisationen deutlich, im Arbeitsalltag sehen wir, wie tiefgehend anders neue Antworten sein müssen, wollen wir die erforderliche Reaktionsfähigkeit aufbauen und erhalten.

Die Revolution der Form der Zusammenarbeit wird überdeutlich.  

Erfahrungen aus Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen und aus der eigenen Beratungsarbeit im Arbeitsfeld “Zusammenarbeit in Organisationen” lassen das Thema “New Work” mit jedem Jahr dringlicher erscheinen. Aufgrund der Corona-Pandemie haben die Ereignisse 2020/21 in Unternehmen, privaten Organisationen und auch im öffentlichen Organisationsbereich weitreichende Entwicklungen enorm beschleunigt. Die nun seit fast zwei Jahren andauernde Sondersituation mit neuen Formen der Arbeit – verteilt auf Homeoffice und Präsenzarbeit im Büro und mit virtuellen Tools, teils freiwillig, teils gezwungen – hat die Sicht auf Arbeitszeitgestaltung grundsätzlich verändert. Dass diese Entwicklung nicht mehr “vorläufig” sein dürfte und auf Verstetigung drängt, zeigt sich auch an den intensiven Diskussionen um die Neugestaltung von zentralen Aspekten der Gestaltung von Arbeit.


Die Entgrenzung zwischen Organisations- und Privatwelt verstärkt sich, der Wunsch nach geschützten Räumen steigt.

Die entstandene Vielfalt an Möglichkeiten und Notwendigkeiten führt zu einer stärkeren Diversifizierung und Individualisierung täglicher Arbeit. Jeder Haushalt ist als eigene selbststeuernde Organisationseinheit gefordert. Die “neue Vielfalt” durchdringt alle Bereiche der Gesellschaft und erhöht im Gegenzug den Wunsch nach Abgrenzung.

Die Welt der Familie als eigenständiger Raum muss sich mehr als in der Vergangenheit gegenüber der Arbeitswelt behaupten. In den vergangenen 20 Jahren konnten wir in den Organisationen sehen, wie über die Führungsebenen allmählich die Entgrenzung zwischen Beruf und Privatleben voranschritt, Erreichbarkeit und flexible Arbeitsformen selbstverständlicher wurden und jetzt auch unabhängig von Managementverantwortung in vielen Organisationen zum Standard werden.  

Die Dynamik dieser Veränderung wird sich noch verstärken, wenn Ansätze der Arbeitsgestaltung, die derzeit vielleicht noch nicht einmal in der eigenen Organisation offen ausgesprochen sind, umgesetzt werden. Berufliches und Privates werden in einer neuen Beziehung zueinander stehen, besonders in Familien, in denen beide Partner berufstätig sind. Veränderungen auf der persönlichen Ebene vollziehen sich dabei schneller als am Arbeitsplatz. Die Organisationen nehmen den Wandel spät zur Kenntnis und brauchen noch viel Zeit, sich ordnungspolitisch und strukturell darauf einzustellen.  

Organisationen erkennen das “New Normal” noch nicht bei sich.

Organisationen tun sich schwer damit, neue Vereinbarungen für die Zeit nach der Pandemie im Umgang mit der Arbeit im Homeoffice zu treffen. Sie fürchten umfangreiche Veränderungen, weil sie die Konsequenzen nicht genau abschätzen können und nicht wissen, was genau sie praktisch regeln sollen. Sie möchten und sollen so schnell wie möglich einen geregelten Zustand wiederherstellen, wissen aber auch, dass Vereinbarungen nicht lange Bestand haben werden und man sich dann wieder neu orientieren muss.

Die bisherige Gestaltung von Arbeit ist in ihren Denkansätzen immer noch eng an räumlich und zeitlich eingegrenzten Strukturen orientiert. Arbeit wurde an industrielle Formen von Produktivität und der dafür erforderlichen Zusammenarbeit orientiert. Die derzeit meisten Regelungsverantwortlichen und Führungskräfte sind in dieser Präsenzwelt sozialisiert, verfügen aber über wichtige, unterschätzte Erfahrungsressourcen auch für das “New Normal”! Räumlich verteilte Arbeit ist z. B. im Außendienst schon lange erprobt und in Regelungswerke eingebettet. Gleiches gilt für sogenannte Telearbeitsplätze und Homeoffice-Verträge. Für die Mehrzahl der Organisationen sind Letztere vor der Pandemie jedoch Einzelfälle geblieben, die auf das Betreiben einzelner “Antragsteller” hin “gewährt” wurden. Auf ihren Schultern lastete dann auch die Verantwortung für gelingendes Arbeiten und die Zusammenarbeit mit den Kollegen und Kolleginnen im Unternehmen. Diese Mitarbeitenden verfügten auch über geeignete häusliche Möglichkeiten.   

Diese Erfahrungsressourcen gilt es nun verstärkt zu nutzen, denn die schiere Menge und Vielfalt an neuen Anforderungen macht einen entscheidenden Unterschied! Als schließlich wegen der Corona-Pandemie die Büroarbeitsplätze ins Homeoffice verbannt wurden, verlagerte sich die Regelungslast vom einzelnen Mitarbeitenden auf alle und auch auf die Organisation als Ganzes. Es war und ist der Abschied von der Ausnahme und die Ankunft in der Normalität.  

Organisationen ändern sich … damit sie bleiben können, wie sie sind.

Wir haben Jahre unterschiedlicher und widersprüchlicher Erfahrungen mit New Work erlebt. In den bisherigen Lockdown-Phasen von März 2020 an haben insbesondere die Mitbestimmungsgremien fast alles mitgemacht, was erforderlich war, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Und das, auch wenn dabei manche geregelte Tatbestände hinsichtlich Arbeitsschutz und Fürsorgepflicht des Arbeitgebers auf Eis lagen. Als es in diesem Sommer dann zunächst so schien, als würden weitere Kontaktbeschränkungen der Vergangenheit angehören, wurde von vielen Führungskräften die Devise ausgegeben: Alle wieder zurück ins Büro! Und nach den monatelangen Homeoffice-Phasen kam das auch gut an. Viele Mitarbeitende hatten den Wunsch nach einem Wiedersehen mit den Kolleginnen und Kollegen, das “New Normal” sollte für viele wieder das “Old Normal” werden. Oder sagen wir besser: fast. Ein differenzierter Blick zeigte durchaus, dass auf allen Ebenen und in allen Bereichen auch positive Erfahrungen mit dem Autonomiegewinn in der Arbeitsgestaltung gesammelt worden waren. Wenn man die Erwartungen und Wünsche zusammenfassen wollte, könnte man sagen: Zwei Tage Homeoffice wären schon ganz gut, Lage und Verteilung in der Woche natürlich nach eigener Vorstellung. Also nicht ganz “dasselbe tun”, aber durchaus “dasselbe an verschiedenen Orten tun”.  

Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Veröffentlichungen in Blogposts und Studien- und Befragungsergebnisse zeigen, wie unternehmensintern oder organisationsübergreifend gedacht wurde. Abgefragt wurde, wie ausgeprägt der Wunsch nach der Arbeit im Homeoffice war. Beispiele wurden zitiert, welches Unternehmen wie viel Prozent Homeoffice eingeführt hat, wer die jüngst getroffene Entscheidung wieder zurückgenommen und dann die Rücknahme der Entscheidung wieder revidiert hat. Wir erinnern uns an das Hin und Her beim Unternehmen Apple. Im Übrigen hielten sich die Meinungen über positive und negative Auswirkungen der Homeoffice-Arbeit die Waage. Einige Studien zeigten Produktivitätszuwächse und Zufriedenheitsgewinne, andere belegten das Gegenteil. Es ergab sich kein einheitliches Bild.  

Als positiv wurden größere Fokussierung und Pünktlichkeit der Treffen vermerkt, als negativ die Schwierigkeit, die persönlichen Beziehungen zu halten, und insbesondere die Anstrengung beklagt, täglich viele Stunden in (synchronen) Meetings zu verbringen. In Ermangelung neuer Konzepte, mit dieser neuen Arbeitssituation umzugehen, hat man versucht, die gewohnte Arbeitslogik aus der Face-to-face-Welt in die virtuelle Zusammenarbeit zu übertragen und irgendwie anzupassen: Viel Versuch und Irrtum, einiges hat funktioniert, anderes nicht. In den Unternehmen war vor allem ein großer Wille zur Krisenbewältigung zu spüren, es gemeinsam zu schaffen. Man ist jedoch nicht grundsätzlich in eine Veränderung der Arbeitsorganisation eingestiegen. Vielleicht weil man dachte, das sei alles nur ein Übergangsphänomen, vielleicht aus Unkenntnis, wie man das anstellen könne.  

Inzwischen ist eine gewisse Gewöhnung, verbunden mit Müdigkeit, eingetreten. Zugleich setzt sich die Erkenntnis durch, dass die neuen Arbeitsformen mit einem größeren Anteil an “remote work” und weniger gemeinsamen Präsenzzeiten kein Übergangsphänomen mehr darstellen. Zumal die aktuelle, fünfte Pandemiewelle (Omikron) jetzt wieder dazu geführt hat, dass in vielen Organisationen Homeoffice wieder als Standardarbeitsform angeordnet wird. 

Langsam wird deutlich, dass es keine Ausnahmesituation mehr ist.

Bezogen auf New Work, ging es um die “Wie-viel-Prozent-Homeoffice”-Frage und die Hygienefaktoren für Work-Life-Balance wie Fahrzeiten, häusliches Arbeitsumfeld und was das mit den Menschen macht. Eine tiefere Beschäftigung mit der Arbeitsorganisation und wie man diese neuen Arbeitsformen gestalterisch verändern müsste, um die Potenziale wirklich zu heben (Stichwort: asynchrone Arbeitsgestaltung, verteilte Führungsrollen, neues Führungsverständnis), erfolgte meist nicht. Die Aufmerksamkeit lag vor allem auf den Auswirkungen der vielen Zoom-/MS-Teams-Meetings, neuen Collaboration-Tools und Fragen der Datensicherheit.   

Der Ruf nach Regelungen wird nun lauter, die “Wild-West-Zeit” soll beendet werden: verbindliche Arbeitsplatzausstattungen und auch mehr Einheitlichkeit in der organisationsweiten Handhabung werden angestrebt. Die Erwartung kommt von mehreren Seiten und mit unterschiedlichen Begründungen: Von der Unternehmensleitung, von Führungskräften, von den Mitbestimmungsgremien und auch von vielen Mitarbeitenden – bei diesen getrieben von dem Wunsch nach Berechenbarkeit und Absicherung entstandener Möglichkeiten, nach Gleichbehandlung, sodass den individuellen und teilweise als willkürlich empfundenen “angeordneten” Bereichsregelungen entgegengewirkt wird.    

Und so kommen wir in das schon bekannte Risiko, zu früh “den Sack wieder zuzumachen”. Die Suche nach Regelungen der neuen Arbeitssituationen wird eine effektive Ausnutzung der Potenziale des virtuellen und verteilten Arbeitens nur unzureichend unterstützen. Wir erkennen viele Chancen noch nicht ausreichend, und zu detaillierte zentrale Regelungen schaffen nicht den nötigen offenen Rahmen für den Umgang mit der Komplexität virtueller Arbeitsräume.  

Erfolgreiches New Work funktioniert grundsätzlich anders

Virtuelle Zusammenarbeit erfordert asynchrone virtuelle Arbeitsprozesse, eine Neuaufteilung der Führungsrolle zwischen Führungskräften und Teammitgliedern und eine konsequente Umsetzung eines dezentralen Führungsmodells. Es entsteht ein freieres Spiel von Kräften, die kompetent “moderiert” werden müssen im Einsatz mit digitalen Tools. Jetzt sind alle Teammitglieder dazu aufgefordert, nicht nur die designierten Führungskräfte. Die Verantwortung für gelingendes organisatorisches Handeln ist nun auf viel mehr Schultern verteilt, als wir dies von der klassischen Face-to-face-Arbeitssituation her gewöhnt sind.   

Initiativen auf der Ebene der Gesamtorganisation, die versuchen, möglichst viele Details der neuen Zusammenarbeit wie gewohnt zu reglementieren, können die im Alltag vielfältigen Anforderungen in einzelnen Organisationsbereichen und die individuellen Bedürfnisse und Arbeitssituationen der Mitarbeitenden nicht “einfangen”. Die jetzt offensichtlich gewordene organisationale Komplexität ist nicht mehr auf ein “nur” kompliziertes Regelwerk zu reduzieren. Die Geister kehren nicht mehr zurück in die Flasche.  

New Work ist der Elefant im Raum  für die Leitungsebene.

Das jetzt erlebte New Work ist weitreichender als die Einführung einer Software oder die Gestaltung eines Weiterbildungsprogramms für den Umgang mit neuen Medien. Die virtuelle Art der Zusammenarbeit wird eine neue Selbstbeschreibung von Arbeit erfordern, wenn man das “Situationspotenzial” (Francois Jullien) nutzen will.

Führung hat nun die widersprüchliche Aufgabe, mit der Perspektive und Kraft ihres bisherigen Rollenbildes genau dieses zu hinterfragen und wirksam zu ändern. In den Organisationen sind strategische Fragen, Investitionsentscheidungen, Kundeninteressen und -umgang, also zentrale Organisationsthemen, tiefgehend neu zu denken. Die Gestaltung von New Work braucht eine Grundsatzentscheidung, verteilte und virtuelle Arbeit aktiv gestalterisch zu betreiben und sich nicht auf Reaktionen der Entwicklungen am Arbeitsmarkt, der Technologie oder sonstiger externer Faktoren zu beschränken. Das Risiko wird noch größer, wenn in Erörterungen zu New Work Sachargumente benutzt werden, es dahinter aber um eigene Überzeugungen zu der Frage geht: Wie kann ich erfolgreich führen, wie viel Kontrolle kann und will ich ausüben, wie gehe ich mit Kontrollverlust um? Die Diskussion im oberen Management legt die Glaubenssätze der Führungskräfte über erfolgreiches Arbeiten, Unternehmens- und Zusammenarbeitskultur und Führungsprinzipien offen – und genau um den neugierigen und ungeschützten Umgang damit sollte es auch gehen!    

Für die Diskussion im Management sehen wir eine zentrale Herausforderung:

Der Grundsatz des Subsidiaritätsprinzips, das wir vom politischen Entscheidungsprozess her kennen, sollte auch im Entscheidungsverhalten in Organisationen für New Work gelten: Alles, was auf operativen Ebenen in kleinen Einheiten entschieden werden kann, sollte auch dort entschieden werden – und nicht “oben” . Zugleich wirken individuelle Einzelvereinbarungen, wie die über die Verteilung von Präsenztagen und Homeoffice-Tagen zwischen der Organisation und einzelnen Mitarbeitern über sich hinaus. 

Individuelle Festlegungen von Rahmenbedingungen virtueller und verteilter Arbeit für die Zusammenarbeit mit anderen Kolleginnen und Kollegen erhalten durch die quantitative Ausweitung eine viel breitere Wirkung. Und lösen dann regelmäßig Fragen nach Gleichbehandlung und Diskussionen über Gerechtigkeit aus. Im New Work spitzt sich auch diese Herausforderung nur zu, sie ist Führungskräften aber seit jeher vertraut. Bearbeitet wurde sie durch Nachvollziehbarkeit von Unterscheidung, konnte aber auch bisher nicht aufgelöst werden.  

Für die Bearbeitung der vielfältigen Spannungen sehen wir eine weiter wachsende Bedeutung von Teams als Bindeglieder zwischen den Anforderungen aus der Gesamtorganisation und den Leistungs- und Motivationsbedingungen der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Den erwarteten qualitativen Sprung dieser Organisationsform nennen wir “Ensemble”. Für uns wird es ein Grundbaustein in der Gestaltung eines neuen Ordnungsrahmens in Organisationen sein, der differenziert zu beschreiben ist. Daran werden wir – gerne im Diskurs mit Ihnen – weiter arbeiten!